Cancel Culture bei den Wiener Festwochen: Prof. Weish schreibt im Nachgang an die Organisatoren
Esprit Européen #7
Lieber Herr Misik,
Ich bedanke mich noch mal nachträglich für Ihre Einladung zu der Veranstaltung, die für mich durchaus interessant, wenn auch nicht erfreulich verlaufen ist.
Ich wußte von Ihnen zuvor nur, dass es um die Problematik von Cancel Culture am Berspiel Ulrike Guerot ging, dass ich zu dem Thema 20 Min. befragt würde und dass meinerseits keine Vorbereitung erforderlich sei. Am Ende der Publikumsveranstaltung bin ich weggegangen in der Meinung, die Absicht dahinter habe darin bestanden, die Problematik von Cancel Culture beispielhaft zu diskutieren, um einem interessierten Publikum ein besseres Verständnis zu vermitteln und dass dies das Ziel gewesen sei.
Ich hatte als Ergebnis der Veranstaltung erwartet und erhofft, dass Cancel Culture mit klarer Begründung als wissenschafts- und demokratiefeindliche Praxis verurteilt würde, nicht aber ein Opfer der Cancel Culture wie Frau Guerot.
Universitäten sind vor allem ein Ort der intellektuellen Auseinandersetzung mit Ideen, Hypothesen und Theorien und zugleich ein Ort, wo Studierende in die Methoden dieser Auseinandersetzung eingeführt werden. Dabei müssen alle Ideen, Hypothesen und Theorien zur Diskussion vorgelegt werden dürfen, auch wenn sie im Widerspruch zur gängigen Lehr- oder öffentlichen Meinung stehen. Das verlangt die wissenschaftliche Freiheit. Es sind oft gerade solche Ideen, die wesentlichen wissenschaftlichen Fortschritt mit sich bringen – man denke nur an Galileo, Semmelweis, Einstein und andere. Die Aufgabe der wissenschaftlichen Auseinandersetzung ist, Spreu vom Weizen zu sondern, und zwar auf der Basis der Meriten der jeweiligen Ideen, Hypothesen, Theorien und nachprüfbaren Fakten, nicht auf Basis von Eigenschaften der Menschen, die sie vertreten oder auf Basis der Zahl derer, die sie vertreten. Es geht um die Argumente, nicht um deren Vertreter. Widerspruch muß – im Gegensatz zu der derzeit häufig geübten Praxis – geradezu gesucht und erwünscht sein, als Weg zu erweiterter Perspektive, oder wie Stuart Mill (1896-1873) es ausgedrückt hat: „The only way in which a human being can make some approach to knowing the whole of a subject is by hearing what can be said about it by persons of every variety of opinion and studying all modes in which it can be looked at by every character of mind. No wise man (or woman) ever acquired his (or her) wisdom in any mode but this.“
Das bedeutet im Umkehrschluß: Andersdenkenden nicht zuzuhören oder gar das Wort zu verbieten, ist ein Bekenntnis zur Dummheit. Zur gelebten akademischen Praxis gehört Interesse an Gegenargumenten und Widerspruch. Ich ermuntere meine Studenten wiederholt zu Widerspruch, denn das hat stets fruchtbare Diskussionen ergeben. Entweder habe ich erkannt, dass ich mich mißverständlich ausgedrückt habe, oder aber meine Sicht der Dinge wurde um eine neue Perspektive erweitert. Ich würde es als unakzeptabel empfinden, wenn Studierende statt eine sachliche Diskussion zu suchen, mich hinter meinem Rücken anschwärzen würden. Leider habe ich – wie auch Frau Guerot – mehrfach erlebt, dass Personen zu bequem sind, die angebotenen Quellen zu studieren und lieber bei ihren Vorurtelen bleiben. Das ist ja auch das Ziel der Meinungsmanipulation (siehe etwa Jonas Tögel: Kognitive Kriegsführung), die – z.B. mit Feindbildern – erfolgreich auf die Ebene der Gefühle zielt und damit das rationale Denken unterläuft. Wo, wenn nicht an Universitäten, sollte ein gewaltfreier, wertschätzender Diskurs beispielgebend vorgelebt werden, eine Gesprächskultur, die in weiten Teilen der Öffentlichkeit von psychologischer Kriegsführung verdrängt wurde? Eine Gesprächskultur, die im Interesse einer lebensfreundlichen Welt mit Zukunft nötiger ist, als je zuvor.
Ich hoffe, Sie verstehen nun, dass ich über diese Veranstaltung, so interessant sie auch war, nicht glücklich bin.
Mit bestem Gruß,
Peter Weish
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